Mittwoch, 14. April 2010

Ein einzelner Schuh...






... weggeworfen oder verloren auf einem alten Rangiergleis unweit des Gleisendes bei der alten Bahnbrücke.

Wie lange mag er da liegen?



Ab und zu gehe ich dort entlang, kein wirklicher Weg – überwachsen von allerlei Kraut, Baumschösslinge zwischen den Schwellen und Gleisen. Einen Zug hat dieses Fleckchen schon lange nicht mehr gesehen; die fahren nur noch bis zum Bahnhof einige hundert Meter entfernt.

Die alte Strecke ist seit Jahrzehnten stillgelegt – über ein halbes Jahrhundert.

Die Schwellen aus Beton, im älteren Teil noch aus Holz, trotzen Zeit und Wetter und die eisernen Schienen klammern sich mit rostigen Schrauben an den verbleibenden Untergrund. Noch vor ein paar Jahren habe ich die Steine zwischen den Schwellen bewundern können - vielfarbige Gesellen, die verlockten, einige von ihnen mitzunehmen, um den Garten zu schmücken.

Jetzt hat das Gras und Laub des umliegenden und dazwischen treibenden Lebens eine Mulchschicht darüber gelegt, die schon wieder Untergrund für neues Leben ist, die alten Strukturen allmählich einschließt und nach und nach vergessen lässt.

Wie lange braucht ein Schuh, um so auszusehen – einen Winter..., ein Jahr..., mehrere...?



Keine Ahnung....

Bisher fiel er mir nicht auf.

Oder wenn, war es gerade nicht merkenswert.

Doch jetzt, im neuen Frühling, sprach er mich an – hatte seine Geschichte zu erzählen...

Vom langen Liegen in einer für ihn fremden Welt, als Außenseiter und Eindringling, so anders von Optik und Material als alles ringsum...

Über die Veränderungen, die er erlebte in seiner neuen Umgebung - den Wechsel der Jahreszeiten, die eigene Unbewegtheit...



Die Veränderungen, die mit ihm geschahen: das Anpassen in Farbe und Substanz, das Aufgenommenwerden in die Umwelt, das Wachsen eines grünen Pelzes als Schmuck der ursprünglichen Zierformen – erst Algen, allmählich moosige Strukturen...



Besuche kleiner Tiere, herein gewehte Blätter, die von ihren Bäumen erzählten...

Seine neue Aufgabe als Schutz und Haus für andere...

Das Werden und Vergehen ringsum und in ihm...



... und jetzt:

zunächst als schützendes Gefäß, gefüllt mit zerfallendem Blattwerk, Moder und Erde, - ein Haus für etwas Neues, Größeres!

Ein Samenkorn hatte beschlossen, in seinem Inneren zu keimen und zu wachsen und vielleicht sogar ein Baum zu werden. Hellgrüne Keimblättchen leuchten fröhlich wie ein Fähnchen.



Die Schnecken und kleinen Insekten werden den alten Schuh weiterhin besuchen und die Weiterentwicklung des Neuankömmlings aufmerksam verfolgen.

Wenn keine groben Füße dort herumtrampeln und die neue kleine Wunderwelt zerstören, wird der Laubfall eines neuen Jahres den Schuh komplett eins werden lassen mit der Erde.

Der Keimling aber wird zum Licht streben und wachsen.

Wer weiß, vielleicht schafft er es wirklich bis zum Baum – die Geschichte des alten Schuhs tief im Innern bewahrend...

Das Ende des Gleises ist nicht das Ende der Welt.



Das Ende von etwas ist nur der Anfang von etwas anderem...

... so wie mich die alte Bahnbrücke zu einem neuen Ort und neuen Geschichten führt...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen